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Immer weniger Menschen kommen in die Kirchen, wie dieser Mann, der eine Kerze entzündet.

Immer weniger Menschen kommen in die Kirchen, wie dieser Mann, der eine Kerze entzündet.

Foto: Socrates Tassos / FUNKE Foto Services

Kirchen am Kipppunkt: Eine Befragung zeigt, das mehr als die Hälfte der Menschen im Alltag keinen Bezug zur Religion hat. Wer betet noch?

Den deutschen Kirchen droht der Kipppunkt: Mit diesem aus der Klimakrise bekannt gewordenen Begriff warnen die Macher einer großen Kirchenstudie vor einem schweren Schaden für die Organisation Kirche durch immer mehr Kirchenaustritte. Ein Überblick über die Studienergebnisse:

Was ist die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung? Seit 1972 organisiert die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in großen Zeitabständen aufwändige Befragungen ihrer Mitglieder. Bei dieser sechsten Ausgabe der Studie wurde erstmals ein repräsentatives Bild für die deutsche Bevölkerung erarbeitet, also auch mit Mitgliedern der katholischen Kirche oder Konfessionslosen. Insgesamt stellte Forsa vor einem Jahr mehr als 5282 Menschen ab 14 Jahren 592 verschiedene Fragen. Laut EKD ist es die umfassendste Untersuchung zu Religion und Kirche, die es in Deutschland je gab.

Wie religiös sind die Deutschen noch? Religion ist eine Minderheitensache geworden. Säkulare Menschen stellen mit 56 Prozent die klare Mehrheit der Deutschen, für sie spielt Religiosität im Leben keine Rolle, und sie sind auch religiös kaum ansprechbar. In Westdeutschland sind 53 Prozent säkular, in Ostdeutschland 73 Prozent. Auch 39 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder und 35 Prozent der Katholiken gelten als säkular.

Wie hoch ist der Anteil der aktiven Christen? Der klassische Kirchgänger ist klar auf dem Rückzug. Noch 13 Prozent der deutschen Bevölkerung gilt als kirchlich-religiös, besucht etwa häufig Gottesdienste oder ist in Gemeinden aktiv - 14 Prozent davon in West- und neun Prozent in Ostdeutschland. Das Durchschnittsalter dieser Gruppe beträgt 54 Jahre und ist damit das höchste der verschiedenen Religionstypen.

Welche Religionstypen gibt es noch? Zu diesen 13 Prozent kommen weitere 25 Prozent, die religiös-distanziert sind. Diese Menschen haben keine Bindung mehr zur Kirche, interessieren sich aber für Religion und Glaubensfragen. Weitere sechs Prozent nennen die Studienmacher Alternative: Das sind Menschen, die etwa an Wahrsagerei oder Esoterik glauben. In dieser Gruppe gebe es einen Hang zum Populismus.

Wie ist es mit Muslimen? Unter den Muslimen gibt es laut Studie eine spürbar höhere Religiosität. Gegenüber den 13 Prozent christlichen Kirchgängern sind 25 Prozent der Muslime aktiv in ihrem Glauben engagiert. Etwa die Hälfte sei der Gruppe der religiös-distanzierten zuzuordnen. Nur eine klare Minderheit von 25 Prozent ist säkular. Über andere Religionsgemeinschaften macht die Studie keine Aussagen.

Wer betet überhaupt noch? Das tägliche Gebet spielt noch etwa für 15 Prozent der Christen in Deutschland eine Rolle. Bei den Katholiken bedeutet diese Zahl einen erheblichen Einbruch - vor 20 Jahren gaben noch 28,6 Prozent an, täglich zu beten. Bei den Protestanten ging der Anteil um zwei Prozentpunkte zurück. Während rund die Hälfte der Menschen in Deutschland nie betet, tun dies 37 Prozent nach eigener Aussage mehrmals im Jahr.

Spielen die Kirchen noch eine gesellschaftliche Rolle? Trotz der gesunkenen Kirchenbindung erwarten auch Konfessionslose von den Kirchen gesellschaftliches Engagement. Eine deutliche Mehrheit von 73 Prozent der konfessionslosen Menschen in Deutschland will, dass sich die Kirchen konsequent für Geflüchtete und deren Aufnahme einsetzen. Dass die Kirchen Beratungsstellen für Menschen mit sozialen Probleme betreiben, wollen 78 Prozent der Konfessionslosen. Bei den Kirchenmitgliedern sind es jeweils noch einmal deutlich mehr Menschen, die solch ein gesellschaftliches Engagement erwarten.

Haben die Kirchen in Deutschland Zukunft? Dies hängt vermutlich in einem starken Maß von der weiteren Entwicklung der Mitgliederzahlen ab. Zwei Drittel der evangelischen Kirchenmitglieder und sogar drei Viertel der Katholiken schließen einen Kirchenaustritt als Option nicht aus - die Studienmacher sehen darin eine deutliche Zuspitzung im Vergleich zu früheren Erhebungen. „Falls all diese Mitglieder in den nächsten Jahren tatsächlich austreten sollten, steht die Kirche vor einem organisationalen Kipppunkt“, heißt es in dem Text. Dann wären die Kirchen zumindest als Organisationen, wie sie heute bekannt sind, im Fortbestand gefährdet.

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